Ihr Browser ist veraltet. Bitte aktualisieren Sie Ihren Browser auf die neueste Version, oder wechseln Sie auf einen anderen Browser wie ChromeSafariFirefox oder Edge um Sicherheitslücken zu vermeiden und eine bestmögliche Performance zu gewährleisten.

Zum Hauptinhalt springen

Religion als WellnessDie spirituellen Grenzen von Yoga

Was ist Glaube? 14 Menschen geben unterschiedliche Antworten in «Ich glaube, mir fehlt der Glaube».

Eigentlich hatte sich Michelle de Oliveira erhofft, bei dieser Arbeit Atheistin zu werden. Daraus wurde nichts, aus ihrem Wunsch nach Antworten aber schon.

«Glaube ich eigentlich? Und falls ja, woran? Oder fehlt mir der Glaube?» Es waren und sind grosse Fragen, die sich die Autorin und Journalistin Michelle de Oliveira stellte. Sie, die schon als Teenager meditiert hatte, Religion und Glaube aber als zu altbacken anschaute. Sie, die auf Mondphasen achtete und Yoga praktizierte und einst Kurse in buddhistischer Psychologie belegt hatte. Trotz dem abenteuerlichen Konstrukt aus allen möglichen Religionen und spirituellen Praktiken kam sie zum Schluss: «Ich glaube, mir fehlt der Glaube.»

Damit ist sie nicht allein: Noch nie haben in der Schweiz so wenig Leute einer Glaubensgemeinschaft angehört wie jetzt. Mit einem Anteil von 34 Prozent hat die Bevölkerung ohne Religionszugehörigkeit 2022 erstmals die Katholikinnen und Katholiken (32 Prozent) überholt.

«Ich glaube, mir fehlt der Glaube» – der Gedanke stand am Anfang von Michelle de Oliveiras gleichnamigem Buch. Das, sagt die 38-Jährige, soll nicht unbedingt Antworten liefern, sondern verschiedene Sichtweisen aufzeigen.

Hunderte von Prozessionen: An Ostern ist der Glaube spürbar wie sonst nie. Hier im spanischen Córdoba.

Dazu hat sie Gespräche mit 14 Menschen aus verschiedenen Themenfeldern geführt. Manche kannte sie vorher schon, einer war sogar «Unterstift» von Michelle de Oliveira. Eine Yogalehrerin (de Oliveiras Yogalehrerin, um genau zu sein) ist darunter, eine queere Pfarrerin, eine Astrologin, eine buddhistische Nonne, eine Astrophysikerin, ein junger Katholik, der im Kloster lebt, und einige mehr.

Ganz wichtig: Auch ein Atheist ist dabei (der Dialog mit ihm ist einer der stärksten im Buch). Die Sammlung an Gesprächen versteht sie als Anregung, darüber nachzudenken, wie viele verschiedene Sichtweisen es gibt – sie hat sämtliche Gesprächspartnerinnen und -partner nach ihrem Glauben, ihren Zweifeln, nach Spiritualität und ihrem Weg hin zu oder weg von Gott befragt.

«Glaube ist nicht starr»

Die Zürcher Journalistin sagt, ihr sei vor dieser Arbeit nicht bewusst gewesen, dass es noch mehr gebe als «ich glaube oder eben: Ich glaube nicht». Der Gedanke an Religion und Glauben sei ihr schon fast unangenehm gewesen. Auch, weil ihr die Vernunft und die sanfte katholische Erziehung in die Quere kam: ein Gott, der die ganze Welt erschaffen hat? Wer hat denn den Rest erledigt?

Es sind Fragen, die sich viele um die 40 stellen. Aber «Glaube ist nicht starr», sagt de Oliveira, er verändert sich einfach. In der Jugend pflegt man – wenn überhaupt – eine andere Spiritualität als mit 80. Diese Erkenntnis kam relativ schnell. Genauso wie jene, dass «Religion in Häppchen» nichts Schlechtes sein muss.

Die Zürcher Journalistin Michelle de Oliveira hat mit 14 Menschen über Glauben und Spiritualität gesprochen – und diese höchst spannenden Ansichten zu Papier gebracht.

Für alle etwas

«Eine Wellnessmentalität», bezeichnet es Designerin und Medium Kathrin Awi, eine der Gesprächspartnerinnen im Buch. «Man kommt zu mir, gönnt sich eine Stunde Channeling, will sich verbinden und gut fühlen, und dann vergisst man das wieder.» Awi bietet in ihrem Studio Channeling, Energie-Arbeit und Meditationen an und sagt: «Für mich ist Gott eine Energie.» Eine echte spirituelle Verbindung, findet sie aber, brauche Disziplin, auch wenn sie sagt: «Wenn bloss alle wüssten, dass es nur um die Liebe geht.»

Michelle de Oliveira findet: Wenn man sich an der Oberfläche bewegt, ist das gut. Tiefe ist aber besser. «Damit Glaube einem eine gewisse Resilienz verleihen kann, dann, denke ich, muss man sich eingehend mit etwas beschäftigen.»

Auch mit ungeliebten Themen wie dem Tod. «Der Tod», sagt Michelle de Oliveira, «und das sagen alle, mit denen ich für dieses Projekt gesprochen habe, muss mehr Platz bekommen im Leben.» Was ihr zufolge nicht heisst, dass man an Wiedergeburt glauben oder ein anderes religiöses Konzept haben muss. «Sich mit dem Tod auseinanderzusetzen, bereichert das Leben.» Wie das konkret aussehen könnte: Es helfe, sagt sie, wenn man den Tod schon nur nicht negiere. Und ihn zum Beispiel auch Kindern zumute. Nicht mit dem Vorschlaghammer, «aber man sollte sich öfters damit auseinandersetzen, dass wir nicht für immer da sind».

Ich glaub, wir sind Sternenstaub

Sind Glaube und Religion überhaupt noch zeitgemäss?, kann man sich natürlich bei schwindenden Zahlen der Kirchgänger fragen. «Zeitgemäss ist das immer für jene Menschen, die fest in einem Glauben stehen», antwortet die Professorin der Religionswissenschaften Dorothea Lüddeckens im Buch. Sie meint damit: Glaube ist sehr individuell geworden.

«Ein Riesenmenü, aus dem man wählen kann», beschreibt es Michelle de Oliveira. Dazu gehört, dass moderne Spiritualität oft alte Konzepte wiederkäut – die nicht immer nur positiv sind. «Es ist zum Beispiel einfach, alles dem Karma zuzuschieben. Das ist das Gleiche wie: Hättest du mehr gebetet, würdest du in den Himmel kommen und wärst fein raus.»

Alle Gespräche, sagt die Autorin, hätten sie beeindruckt. Logischerweise auch das mit der Astrophysikerin Kathrin Altwegg, die gläubig ist. Diese stellt sich Gott «nicht personell» vor, aber «als eine göttliche, alles umschliessende Dimension» und sagt: «Wir Menschen sind aus Sternenstaub gemacht.»

Sie antwortet auf eine Frage, die wohl einige umtreiben mag: Könnten wir angesichts der Tatsache, dass wir «gegen die Sonne machtlos sind», den Klimaschutz nicht einfach vergessen? Laut Altwegg hatte der Mensch bis anhin einfach sehr viel Glück, und die Erde wird irgendwann unbewohnbar sein? (Nein, keinesfalls können wir den Klimaschutz vergessen, sagt die Astrophysikerin. «Es macht einen Unterschied, ob es auf der Erde noch lebenswert ist in den nächsten hundert oder in den nächsten zehntausend Jahren.»). 

Nun, wer weiss, vielleicht lacht die Wissenschaft in 100 Jahren sich ja über gewisse Erkenntnisse von heute tot. Der Menschheit wäre es zu wünschen, immerhin würde das bedeuten, dass sie noch existiert.

Aber zurück zu Michelle de Oliveira. Aus dem Atheismus wurde leider nichts, im Gegenteil. Nach all den Gesprächen sagt sie: «Ohne Glauben würde etwas fehlen. Wir sind in einem grossen Ganzen eingebettet. So viel habe ich begriffen. Aber wir checken nicht alles. Ich finde es schön, das zu wissen.»