Ihr Browser ist veraltet. Bitte aktualisieren Sie Ihren Browser auf die neueste Version, oder wechseln Sie auf einen anderen Browser wie ChromeSafariFirefox oder Edge um Sicherheitslücken zu vermeiden und eine bestmögliche Performance zu gewährleisten.

Zum Hauptinhalt springen

Tourismus-Pionier Otto HerwigDer Mann, der Arosa erfunden hat

Es habe sich nicht wie das Brüllen eines Munis angehört, kommentierte der Schafhirt jene seltsamen Laute, die er im September 1881 bei der Mittagslugga gehört haben wollte. «Auch nicht wie das Muhen einer Kuh – und schon gar nicht wie das Bellen eines Hundes.» Dem Bauern Bartli Mettier schwante Übles. «Das ist der Bär, der vor zwei Jahren schon siebzehn Schafe gerissen hat. Er ist wieder zurück!»

Der Hirt und der Bauer sind zwei von gerade mal fünfzig Menschen, die vor 140 Jahren in Arosa siedelten, einem kleinen, schwer zugänglichen Dorf im inneren Schanfigg, ganz hinten, wo zwischen schroffen Felsen die Plessur entspringt, bevor sie in weitem Bogen dem Rhein entgegenfliesst.

Tags darauf lagen zwanzig Schafe in ihrem Blut. Die Männer, gewappnet mit rostigen Gewehren und glühenden Holzscheiten, fanden Spuren, folgten ihnen – ohne Erfolg: Der Bär war schon über alle Berge.

«Fahr in die Schweiz», riet seine Schwester

Es vergingen weitere zwei Jahre, bis beim Radünergletscher, zwischen Dischma- und Flüelatal und unweit von Davos, einer der letzten Bären in den Schweizer Ostalpen erlegt wurde – offenkundig derselbe, der die Aroser Schafe auf dem Gewissen hatte. Er musste über den Strelapass gekommen sein und hatte sich dort womöglich in eine Schneehöhle zurückgezogen. Jedenfalls vermochte der einsame Wanderer, der im Frühling 1883 den Pass auf demselben Saumpfad, aber in entgegengesetzter Richtung überquerte, den Winterschläfer nicht aus der Ruhe zu bringen.

Der deutsche Arzt Otto Herwig – Kindheit in Hanau bei Frankfurt, Medizinstudium in Tübingen, erste Anstellung als Armenarzt in Stuttgart – wird noch vor seinem dreissigsten Geburtstag selbst zum Patienten: Lungen-TB. Gegen die Tuberkulose ist um die vorletzte Jahrhundertwende noch kein Kraut gewachsen. Epidemieartig verbreitet sie sich über den Kontinent. Ihre Opfer husten blutigen Auswurf und verlieren rasch an Gewicht. Die Schwindsucht, wie die Krankheit deshalb auch genannt wird, rafft jährlich Hunderttausende dahin. Es gibt nur eine Therapie: gute Luft, bekömmliche Nahrung, viel Ruhe.

«Fahr in die Schweiz!» Ottos Schwester Marie legt ihrem Bruder eine Kur in den Graubündner Bergen ans Herz. Sie hat ebenfalls Symptome, eilt ihm voraus – nach Davos, wo Alexander Spengler, auch er ein Arzt aus Deutschland, vor fünfzehn Jahren sein Sanatorium für Lungenkranke eröffnet hat. (Übrigens: 1923 – vierzig Jahre später und aus heutiger Sicht vor exakt hundert Jahren – gründet Alexanders Sohn Carl mit dem legendären Spengler-Cup das weltweit älteste Eishockeyturnier.)

«Ich bin mehr schwimmend als gehend hier angekommen!»

Otto Herwig über seinen ersten Aufstieg nach Arosa

Otto Herwig folgt der Schwester und tritt die Reise in die Bündner Alpen an. Mehr als ein Jahr währt die Kur, über deren Verlauf wenig überliefert ist. Verbürgt ist lediglich, dass Herwig seinen Aufenthalt nicht etwa in Spenglers Sanatorium antritt, er steigt in der Pension Gredig ab. Fest steht auch, dass er die Krankheit nach einem guten Jahr überwunden hat, «sonst hätte er im April 1883 die beschwerliche Wanderung über den Pass nicht geschafft», weiss der Aroser Historiker Thomas Gull, der die Herwig-Saga recherchiert und letztes Jahr als Buch herausgebracht hat («Herwigs in Arosa – Die Erfindung eines Kurorts». Verlag Hier und Jetzt, 2022, 223 S., ca. 40 Fr.).

Der Weg über den 2350 Meter hohen Strela ist nicht nur steil, bis weit in den Juni hinein ist er auch schneebedeckt. Sulzig sei es gewesen, wird er berichten: «Ich bin mehr schwimmend als gehend in Langwies angekommen!» Das Dorf im Schanfigg ist zu jener Zeit, als die Klus im unteren Prättigau für Pferdefuhrwerke noch unpassierbar war, so etwas wie ein Verkehrsknoten: Rechts geht es hinunter nach Chur, links führt ein Säumerpfad hinauf zu den Häusern von Arosa.

So sah Arosa zu Lebzeiten von Wellnesspionier Herwig aus. Es steppte noch nicht grade der Bär. 

Otto Herwig steigt in der Pension Brunold ab, einer der drei Aroser Herbergen – er ist der erste Gast, der den ganzen Sommer bleibt und überwintert. Noch ahnt er allerdings nicht, dass er im Begriff ist, Schweizer Tourismusgeschichte zu schreiben.

Verliebt ins Dienstmädchen

Was hat ihn dazu bewogen, nach seiner Genesung nicht in die schwäbische Heimat zurückzukehren, stattdessen übers Gebirge zu ziehen, um sich an diesem gottverlassenen Ort niederzulassen? «Wir wissen es nicht», räumt Herwig-Biograf Gull ein. Es sei zwar nicht belegt, dennoch wahrscheinlich, dass Spengler und Herwig einander in Davos begegnet seien. Dabei werde wohl auch der therapeutische Effekt von ozonreicher Bergluft verbunden mit natürlicher Höhensonne zur Sprache gekommen sein. Vermutlich hat Spengler auch Arosa erwähnt. Mit über 1800 Höhenmetern liegt das Dorf hinter den Bergen noch rund 300 Meter höher als Davos. «Damit», mutmasst Gull, «könnte der Arzt Spengler das wissenschaftliche Interesse des Kollegen Herwig geweckt haben.»

Neben der Heilkraft der Bergluft war noch eine andere Macht im Spiel: die Liebe. Margarethe Hold, 24 Jahre jung, verlässt ihren Geburtsort Arosa, um in Davos eine Stellung als Dienstmädchen anzutreten. «Nicht ausgeschlossen, dass sie in der Pension Gredig den Gast Otto Herwig kennen gelernt hat», mutmasst Ottos Enkel Hans Herwig, der kürzlich seinen 90. Geburtstag feierte, sich als Absolvent der Hotelfachschule im Gastgewerbe etabliert hat und noch heute in Arosa lebt. «Sicher ist jedenfalls, dass Otto und Margarethe schon im folgenden Sommer heirateten.»

Herwig misst Wind, Temperatur, Feuchtigkeit, Luftdruck – und findet seine Vermutung bestätigt: Arosa ist als Kurort perfekt geeignet.

Unter den Hochzeitsgästen ist Marie, die unterdessen ebenfalls von der Tuberkulose genesen und ihrem Bruder von Davos nach Arosa gefolgt ist, als einzige Vertreterin der Herwig-Familie. Sie wird auch eine der beiden Frauen sein, die Otto durch ein von schicksalhaften Wendungen geprägtes Leben begleiten.

Gut möglich, dass sie ihn dazu brachte, sich dieses Arosa mal anzusehen: Margarethe und Otto Herwig als altes Ehepaar. 

Herwig erhebt meteorologische Daten – Wind, Temperatur, Feuchtigkeit, Luftdruck – und findet seine Vermutung bestätigt: Die Höhenlage und die Topografie halten die Luftmassen in dieser Hochgebirgsregion unablässig in Bewegung. Arosa ist eine natürliche Frischluftquelle, als Kurort besser geeignet als Davos. Da ein Hausarzt in der kleinen Gemeinschaft kein Auskommen findet, liegt das Projekt Lungensanatorium buchstäblich in der Luft.

Zunächst aber erweist sich der sportliche Arzt auf einem ganz anderen Gebiet als Pionier: Aus Norwegen lässt Herwig sich ein Paar Ski liefern und kurvt genüsslich durch den Pulverschnee. Unter Historikern bleibt die Frage ungeklärt, ob der Deutsche als erster Schweizer Skisportler in die Geschichte eingeht.

Knatsch innerhalb der Familie

Am Hang unter der Tschuggen-Alp erwerben die Herwig von der Gemeinde jenes Grundstück, das die längste Sonnenscheindauer aufweist. Vier Jahre später steht die Eröffnung des Sanatoriums Berghilf aber unter keinem guten Stern: Das Geschäftsmodell – Marie ist für die Hotellerie zuständig, Otto für die medizinische Betreuung der Patienten – scheitert an der Bürokratie: Der Kanton verweigert dem deutschen Arzt die Approbation, untersagt ihm jegliche medizinische Tätigkeit. Herwig fühlt sich gedemütigt, muss einen Chefarzt einstellen.

Otto sorgt dafür, dass die Aroser Luft rein bleibt – etwa, indem er die Dorfstrasse regelmässig mit Wasser besprühen lässt.

Immer offensichtlicher werden zudem die charakterlichen Differenzen zwischen der «stillen und zurückhaltenden Art meines Vaters», wie Else, seine älteste Tochter, es formulierte, «und dem autokratischen Gehabe seiner Schwester». Im moralisch-religiösen Eifer habe Marie in der Hausordnung sogar «gemeinsame Spaziergänge männlicher und weiblicher Gäste» untersagt.

Schon bald kommt es zum Bruch: Otto verkauft Marie seinen Anteil am Berghilf und zieht mit Margarethe in das Wohnhaus, das er zuvor schon wenige hundert Meter unterhalb des Berghilf erworben hat. Er baut diese Immobilie aus und eröffnet 1891 mit dem Sanatorium Villa Dr. Herwig einen Konkurrenzbetrieb. 

Als Präsident des Ärztevereins setzt er sich dafür ein, dass die Aroser Luft rein bleibt – etwa, indem er die Dorfstrasse regelmässig mit Wasser besprühen lässt. So bleiben die Hinterlassenschaften der Pferde auf dem Boden und werden nicht staubtrocken verwirbelt. Jetzt erst, zwölf lange Jahre nach seiner Ansiedlung in Arosa und vier Jahre nach der Eröffnung seines zweiten Sanatoriums, gewährt das Gesundheitsamt die ärztliche Zulassung. Endlich darf Otto Herwig seine Patienten als Arzt behandeln.

Die Villa Herwig (links) war Ottos zweiter Wurf in Arosa, nachdem er sein erstes Sanatorium Berghilf an seine Schwester verkauft hatte. 
War nicht nur in Sachen Tourismus ein Trendsetter, sondern auch beim Schneesport: Die Ski hatte sich Otto aus Norwegen kommen lassen.

Wie Pilze schiessen in den Folgejahren die Kurhäuser aus dem Boden – bis die Pharmabranche mit den Antibiotika den Medikamentenmarkt aufmischt. Die Wunderwaffe bekämpft bakteriologische Infektionskrankheiten wesentlich effizienter als jede Bergluftkur und macht dem Schreckgespenst Tuberkulose endgültig den Garaus; Spass und Sport lösen den Kurhaustourismus ab.

«Otto würde es wohl kaum fassen, dass die Aroser Hotellerie heute in guten Jahren mehr als eine Million Übernachtungen registriert.»

Hans Herwig (90), Ottos Enkel

Otto Herwig erliegt 1926 einem Schlaganfall. Er hinterlässt bis heute 49 Nachfahren in vier Generationen; unter ihnen Ärzte, Künstler, Gastronomen sowie – als einer von 15 Urenkeln – der 100 Jahre nach ihm geborene Schreibende. An der Waldgrenze unterm Tschuggen, wo Herwig einst das Berghilf gegründet hat, thront heute das Grand Hotel Tschuggen, erwachsen aus der Konkursmasse des Sanatoriums.

Ottos Enkel Hans Herwig steht neben Autor Thomas Gull auf der Maraner Alp und schaut zu den Furkahörnern hoch, dorthin, wo Otto Herwig einst von Davos herübergekommen ist. Was würde der Tourismuspionier wohl sagen, wenn er heute über den Strelapass nach Arosa wanderte? «Zweifellos würde er sich über den Aufschwung freuen, den er angestossen hat», sagt Hans Herwig. «Und er würde es wohl kaum fassen, dass die Hotellerie in guten Jahren mehr als eine Million Übernachtungen registriert..»

Links Buchautor Thomas Gull, rechts Hans Herwig, Ottos Enkel.

«Bestimmt würde ihm auch gefallen», ergänzt Thomas Gull, «dass er mit Alexander Spengler die Idee der Höhenkur und damit Wachstum und Wohlstand in die Walserdörfer Davos und Arosa gebracht hat.»

«Auch die rasante Entwicklung des Skisports würde ihn begeistern», schliesst Hans Herwig und lächelt: «Und die Rückkehr der Bären. Die leben jetzt im Bärenland, unweit von der alten Villa Herwig.»