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Tartu: Kulturhauptstadt 2024Eine Stadt, die viel cooler ist, als sie aussieht

O. k., sie sind bereit für den grossen Ansturm – und motiviert: Das Team der Kulturhauptstadt Tartu. Im Hintergrund das berühmte rosarote Rathaus.

Katzen landen immer auf den Pfoten: Diese Fähigkeit illustriert in Tartu, der zweitgrössten Stadt Estlands, jetzt ein Wandgemälde an einem mehrstöckigen Wohnhaus. «Davon können auch wir Menschen lernen», findet Kati Torp. Sie ist nicht nur die Besitzerin der echten Bengalkatze, die für die Wandmalerei Modell flog, sondern auch künstlerische Leiterin des Kulturhauptstadt-Programms. Dessen Motto: «Arts of Survival».

Dabei sind die «Überlebenskünste» kein Kommentar zur Weltlage. «Das Motto stand schon 2017 fest, als wir die Bewerbung einreichten», sagt die 39-Jährige. Damals dachten die Organisatoren eher an die Frage, was Städte lebenswert macht. Oder wie in unserer globalisierten Welt eine Sprache wie Estnisch, die gerade mal eine Million Menschen beherrschen, überleben kann.

Die Besitzerin der Katze, die für die Wandmalerei Modell flog, ist die künstlerische Leiterin des Kulturhauptstadt-Programms.
Katzenliebhaberin und Kulturkennerin: Kuratorin Kati Torp.

Ende 2019 erhielt Tartu den Zuschlag (wie auch das österreichische Salzkammergut und Bodø in Norwegen, siehe Box), seither rissen die Herausforderungen nicht ab: erst Corona, dann der Angriff auf die Ukraine. «Für uns in den baltischen Staaten ist Russlands brutaler Krieg etwas sehr Persönliches», sagt Kati Torp, aber man wolle den Schmerz der Ukrainer nicht für das Kulturhauptstadtjahr instrumentalisieren. Sie hätten das Programm immer wieder angepasst, doch die Grundidee blieb: Damit wir Menschen ein besseres Leben führen können, braucht es mehr Nachhaltigkeit und Einfallsreichtum.

Nach der Eröffnungsfeier am 26. Januar sind zehn Monate lang etwa 1000 Veranstaltungen in Tartu sowie an 18 Orten im Süden des Landes geplant. Klassisches wie Theaterinszenierungen (etwa zum Geldwäscheskandal der Danske Bank, der Estland 2018 erschütterte), Konzerte und ein Dokumentarfilmfestival, aber auch Kurse fürs Stadtgärtnern und Reparieren von Alltagsgegenständen. Man rechnet total mit einer Million Besuchern – davon 100’000 aus dem Ausland.

Tausende Ukrainer aufgenommen

Welchen ersten Eindruck macht die Stadt auf Auswärtige? Berk Vaher, Schriftsteller und DJ, weiss es. Er zog selbst einst als Student nach Tartu. «Man sieht das rosa Rathaus, den Brunnen mit einem küssenden Paar und viel neoklassizistische Architektur», sagt er. Das Zentrum wirke fast wie eine «bürgerliche Puppenstube» und etwas rückwärtsgewandt. Doch die Realität sei anders. «Eklektisch.» Ein sich ständig änderndes Gemisch aus Stilen, Lebensentwürfen und Nationalitäten. Seit Russlands Überfall am 24. Februar 2022 sind Tausende Ukrainer in Tartu aufgenommen worden. Seit Jahren siedeln sich Tech-Start-ups an, und für frischen Wind sorge auch die Uni mit 14’300 Studierenden aus 100 Ländern. Zudem, sagt Vaher, sei die Subkultur für eine Stadt mit 100’000 Einwohnern erstaunlich vielfältig: Es gebe Punks, Raver und überhaupt viele Musikfans.

Weil die Innenstadt von Tartu 1775 abbrannte, stammen die meisten Gebäude dort aus dem 18. und 19. Jahrhundert.
Berk Vaher, Schriftsteller und DJ, zog einst als Student nach Tartu – und blieb.

Am besten erkundet man Tartu zu Fuss. Dann wird schnell klar, was Vaher meint. In der Innenstadt reihen sich Buchläden an Bars und schicke Beizen. Cafés laden zur «Kohvipaus» (im Estnischen finden sich viele deutsche Lehnwörter), im architektonisch ambitionierten Nationalmuseum verfliegt die Zeit ebenso wie bei Spaziergängen entlang des Flusses Emajõgi oder im Park auf dem Domberg mit der imposanten Kirchenruine. 

Wer gern käfelet, ist in Tartu richtig. Und: Velofreundlich ist die Stadt übrigens auch.
Heiliger Bimbam! Die Kirchenruine auf dem Domberg wird heute für Konzerte genutzt.

Ein Teil der Subkultur fällt nach wenigen Schritten auf: In Tartu boomt die Street-Art. An vielen Wänden prangen bunte, grossflächige Bilder, an Laternenmasten oder Stromkästen haften kunstvolle Aufkleber. Seit 2010 gibt es das Stencibility Festival, das grösste Stickerfestival Europas. Und heuer sind mehr als ein Dutzend internationale Street-Artists eingeladen, die Stadt zu verzieren. Wandgemälde entdeckt man auch an den typischen Chruschtschowka-Plattenbauten, die in den 1960ern gebaut wurden, als Estland zur Sowjetunion gehörte. Besonders bunt sind die Häuser im einstigen Elendsviertel Suppilinn sowie im Stadtteil Karlova. Letzterer ist nicht nur wegen der historischen farbigen Holzhäuser, sondern auch dank Bars wie dem Barlova mit monatlich wechselnden Kunstausstellungen einen Besuch wert.

Digitale Kunst im Wald

An Selbstbewusstsein mangelt es Tartu nicht. Die Stadt wird 1030 erstmals erwähnt und ist damit die älteste im Baltikum. Ausserdem ist sie das intellektuelle und kulturelle Zentrum Estlands, vor allem wegen der 1632 gegründeten Universität: Heute zählt die Tartu Ülikool zum besten Prozent der Hochschulen der Welt.

«Die Jungen», sagt Berk Vaher, «müssen wieder lernen, positiv über die Zukunft nachzudenken. Und sehen, wie wichtig dazu das gesellschaftliche Miteinander ist.» Er war es, der das Motto «Arts of Survival» vorschlug. Der 48-Jährige war schon an Bord, als sich Tartu 2005 um den Titel bewarb und gegen Tallinn verlor. Während in der Hauptstadt 2011 noch ein grosses Meermuseum eröffnet wurde, steckt «Tartu 2024» das Budget von 24,5 Millionen Euro nicht in Gebäude. Sondern in Kreativität. Dass etwa Kati Torps Katze Iku nun auf einer Hauswand prangt, kam so: «Statt Fotos aus einer Datenbank zu kaufen, haben wir das Geld lieber für ein eigenes Shooting ausgegeben.»

Das Hauptgebäude der 1632 gegründeten Universität: Heute zählt die Tartu Ülikool zum besten Prozent der Hochschulen der Welt.
In Tartu studieren über 14’000 junge Menschen. Das prägt das Stadtbild ebenso wie die Street-Art, die überall zu finden ist.

Estland ist seit langem Digitalpionier, wo online gewählt wird und es eine effiziente Verwaltung ermöglicht, binnen 20 Minuten eine Firma zu gründen. Dazu passt ein Projekt, das Digitalisierung mit unberührter Natur verschränkt: Für «Wild Bits» hat der Medienkünstler Timo Toots einen Bauernhof 40 Kilometer ausserhalb von Tartu in eine Mischung aus Atelier und Hightech-Labor umgebaut. Toots schickt die Besucher für einige Stunden hinein in die Wälder und ins Moor, lässt sie auf einen See hinausrudern – um sie dort mit Kunst zu konfrontieren.

Wer Zeit hat, den Süden des Landes zu bereisen, sollte das tun. Er ist wunderschön, viele Esten haben Sommerhäuser in der Natur, wo selten eine Rauchsauna fehlt. Die Unesco hat diese Saunen, die keinen Schornstein haben, als immaterielles Kulturerbe anerkannt; früher brachten Frauen dort sogar ihre Kinder zur Welt. 2023 wurde der Film «Smoke Sauna Sisterhood» am Sundance-Festival prämiert. «Der Streifen thematisiert Zusammenhalt und Solidarität, Tradition, körperliche und psychische Gesundheit», sagt Vaher: «Damit thematisiert er auf brillante Weise diverse Fragen des Überlebens.»

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In Tartu sieht man überall ukrainische Fahnen. In Bars und Restaurants stehen Spendendosen für die ukrainische Armee, und in Gesprächen wird klar, dass die meisten Esten es richtig finden, dass ihre Regierung die Steuern erhöht, um drei Prozent der Wirtschaftsleistung in die Armee zu stecken. Die Sorge, das nächste Opfer von Putin zu sein, ist gross. Es kann einem leicht passieren, nahe der Uni Freiwillige zu sehen, die Tarnnetze für ukrainisches Militärgerät knüpfen – aktuell mit weissen und beigen Stofffetzen, damit die Panzer im Schnee unentdeckt bleiben. 

Für das Kulturhauptstadtprogramm habe man eng mit der ukrainischen Community zusammengearbeitet, sagt Kuratorin Torp. Die ukrainische Künstlerin Viktoria Berezina wird in einem Workshop mit ihren Landsleuten ein riesiges Tarnnetz knüpfen: allerdings in knalligen Farben, als Statement. 

Als ihr persönliches Highlight des Jahres nennt Kati Torp das «Kissing Tartu»-Festival. Inspiriert durch den Brunnen mit dem knutschenden Paar, sollen im Mai Zehntausende zusammenkommen und es ihm gleichtun. «Wir hoffen, dass viele mitmachen, egal wie alt sie sind, wo sie herkommen und welche sexuelle Orientierung sie haben.» Man wolle nicht zuletzt feiern, dass Homosexuelle nun in Estland heiraten dürfen – eine Ausnahme in Ost- und Mitteleuropa.  

Die Recherchereise für diesen Beitrag wurde zum Teil unterstützt von Veranstaltern, Hotels, Fluglinien und Tourismus-Agenturen.

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