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Nachruf auf Literaturkritiker Bernard PivotEr lehrte die Franzosen und Frankofonen, das Lesen zu lieben

Da standen noch Aschenbecher im TV-Studio: Bernard Pivot während einer Sendung von «Apostrophes».

Sie nannten ihn «Roi Lire», und da war alles drin, auch die Art Ironie, die ihm gefiel. «König des Lesens», mit der lautmalerischen Anlehnung an Shakespeares «King Lear».

Bernard Pivot hat in seinen spektakulär erfolgreichen Literatursendungen am französischen Fernsehen, in «Apostrophes» und in «Bouillon de culture», die Franzosen und die Frankofonen dieser Welt das Lesen lieben gelehrt, dieses Schweben und Dräuen in der Sprache, er war selbst ein Gourmand des Wortes, der Orthografie, der Grammatik. Und er konnte so darüber reden, mit so viel Enthusiasmus, dass es das ganze Volk verstand. Ein Demokratisierer der Literatur war er. Der Französischlehrer, den man sich immer wünschte, mit krausen Augenbrauen und Pfeife. Ein Verfechter des Französischen, aber kein reaktionärer.

Nun, da Bernard Pivot im Alter von 89 Jahren in Paris gestorben ist, schicken ihm die Zeitungen «Libération» und «Le Parisien» erste Seiten nach, auf denen nur er zu sehen ist, mit dem Jahr seiner Geburt und dem Jahr seines Todes, als wäre er Präsident des Landes gewesen. «Épilogue», schreibt die «Libé» dazu.

Seine «billets» waren eine gute Schule

Pivot kam in Lyon zur Welt, die Eltern hatten da einen Lebensmittelladen. Als Jugendlicher musste er die Einkäufe der Kunden austragen. Einmal sagte jemand in seinem Rücken, dem Jungen müsse man kein Trinkgeld geben, der sei der Sohn des Besitzers. Solche Geschichten erzählte er gern, sie verorteten ihn in der Provinz, weitab vom Pariser Glamour. Dafür stand auch seine Liebe für den Fussball, für die «Verts» der AS Saint-Étienne, für den Wein, für gutes Essen – ein Freund der vermeintlich niederen Freuden.

Ein Freund vermeintlich niederer Freuden: Pivot mochte Fussball, vor allem die AS Saint-Étienne, und Wein mochte er auch sehr gern.

Pivot absolvierte die Journalistenschule, grosse Studien machte er nicht. Er arbeitete dann lange für die Literatursektion des «Figaro» und schrieb dort eine Menge «billets», wie die Franzosen der kurzen, kommentierenden, rezensierenden Form sagen, in der man die Ideen schnell auf den Punkt bringen muss. Eine formidable Schule.

Als Jean d’Ormesson die Redaktion übernahm, flog Pivot raus. Er erhielt eine Entschädigung, mit der er im kleinen Anwesen seines Vaters im Beaujolais ein Schwimmbad bauen liess, er nannte es «Jean d’Ormesson». Die beiden wurden dennoch Freunde. Pivot lud den Schriftsteller und Académicien oft in seine Sendungen ein, sie duellierten sich genüsslich.

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Sein erstes Programm hiess «Ouvrez les guillemets», 1973, damals gab es in Frankreich nur einen Fernsehsender. Es war das erste Format, in dem es allein um Bücher ging. Und Pivot war so leicht in seiner Präsentation, so nicht intellektuell durchtrieben, dass sie 1975 beim öffentlichen Kanal Antenne 2 fanden, der Mann habe einen tollen Sendeplatz verdient: Freitagabend, 21.30 Uhr, live.

Der Salon wurde oft zum Saloon

«Apostrophes» wurde zum verrauchten Salon des belesenen Redens, zuweilen aber auch zum Saloon. Zum Auftakt lief immer ein Auszug aus dem Piano Concerto No. 1 von Sergei Rachmaninow, ziemlich dramatisch. Es wurde zum Soundtrack des französischen Freitagabends. Pivot lud gern eklektisch ein, brachte grosse Schriftsteller, Künstler und Polemiker zusammen und drängte sie zur kontroversen Debatte am Tisch, er gab den Zeremonienmeister, leicht zurückgelehnt, und warf einfache, scharfe Fragen ein.

Tiefe Einblicke in die Seele der Gäste: Alexander Solschenizyn war 1993 bei Pivot in der Sendung «Bouillon de culture».

Frankreichs Grosse hatte er alle, so kamen bald auch die Grossen aus dem Ausland. Vladimir Nabokov sass bei Pivot vor einer Teekanne, man schenkte ihm ständig nach. Nabokov sagte dann, der Tee sei aber stark, und lächelte schalkhaft, es war Whiskey. Charles Bukowski war bei Pivot so sturzbetrunken, dass es beinahe zur Schlägerei mit anderen Gästen gekommen wäre, er verliess das Studio vor Ende der Sendung.

«Apostrophes» war oft grosses Theater. Millionen setzten sich vor den Fernseher und schauten berühmten Leuten zu, die sich vor Pivot entblössten, die sich in die Seele blicken liessen, tief auch und berührend. Bei Pivot erzählte Alexander Solschenizyn über seine Jahre im Gulag.

Mitterrand ging zu Pivot, so musste auch Giscard gehen

Zweimal lud er François Mitterrand ein, als der noch Chef des Parti Socialiste und der Opposition war. Mitterrand hielt sich ja immer für einen Schriftsteller, der keine Zeit zum Schreiben habe, wobei: Er fand sie dann doch immer, für ein rundes Werk. Und die Franzosen mögen es, wenn ihre Mächtigen schreiben, wenn sie feine Denker sind. Weil Mitterrand bei Pivot war, liess sich auch Valéry Giscard d’Estaing einladen, als amtierender Präsident wohlgemerkt, damit er über Maupassant reden konnte. Wie stark Pivot dazu gedrängt wurde, ist nicht überliefert. Giscard war neidisch auf den Rivalen Mitterrand. Die Wahl von 1981 sollte er dann doch verlieren.

Bücher, die bei Pivot wohlwollend besprochen wurden, waren schon am Tag darauf Bestseller. Der Philosoph Régis Debray, einer seiner wenigen Kritiker, warf Pivot vor, er führe den Büchermarkt wie ein Diktator. Pivot lud natürlich auch ihn ein. 724 Ausgaben sollten es am Ende sein. 1990 nahm Antenne 2 «Apostrophes» aus dem Programm und führte die Sendung unter dem Namen «Bouillon de culture» zehn Jahre weiter. Dann kam «Double je», eine Serie von Zwiegesprächen mit Autoren, sehr intim.

Französische Meisterschaften ... im Diktat

Pivot hatte parallel dazu das Diktat populär gemacht. Er veranstaltete eine nationale und später eine internationale Meisterschaft der Orthografie, reiste durchs Land, füllte Aulen und Hallen und las seine «dictées» vor, deren Sätze so gezwirbelt waren, als wären es mathematische Rätsel.

Die besten Teilnehmer aus den Vorrunden qualifizierten sich für das Finale, das auch mal im Amphitheater der Sorbonne stattfand, einmal auch im Saal der Assemblée nationale, Frankreichs Abgeordnetenkammer, und live im Fernsehen übertragen wurden.

Er machte sogar das Diktat populär: Bernard Pivot, 1935 bis 2024.

Die Franzosen fragen sich ja immer mit Sorge, ob ihre schöne Sprache nicht erodiere, ob sie nicht weggetragen werde von der Flut des Englischen. Pivot schaffte es, diese Sorge zu enttheorisieren, sie umzudrehen, aus der Sprache ein Fest zu machen. Man schaute ihn auch in Rabat, in Algier, in Phnom Penh, in der Westschweiz natürlich, in Dakar, im südindischen Pondycherry, überall da eben, wo man auch und noch Französisch spricht.

Er war ein Masseur der Frankofonie, ein Bücherschmuggler. Es gibt noch immer eine Literatursendung zur besten Sendezeit in Frankreich. Sie heisst «La grande librairie» und läuft auf France 5. Ihre Macher berufen sich jetzt gern auf Pivot. Aber es fehlt ihnen das Flair, der Sound, auch die Selbstironie des Meisters.

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