Wissenschaft und Technik haben unsere Welt in den vergangenen 50 Jahren radikal verdinglicht. Unser Weltbild ist nüchtern geworden, wir haben uns zu rational denkenden Wesen entwickelt, die sich in einer hochtechnischen und auf materielle Effizienz ausgerichteten Alltagsrealität zurechtfinden müssen. Naturwissenschaftliche Erkenntnisse prägen zunehmend unser Bewusstsein, viele Geheimnisse sind entzaubert worden. Wir müssen uns immer mehr von Illusionen verabschieden. Es besteht die Gefahr der emotionalen Öde. Deshalb sind die „coolen Typen“ hype, mit der Spass- und Eventgesellschaft versuchen wir, die Defizite auszugleichen.
Religiöse und spirituelle Heilskonzepte werden als wirkungsvolles Rezept gegen die grassierende Coolness gepriesen. Tatsächlich erleben wir die Renaissance einer neuen Religiosität. Die Grosskirchen leeren sich zwar, dafür boomen die Kleingruppen unterschiedlichster Couleur. Ich habe gegen 1000 solcher Zirkel und Bewegungen im Archiv. Und das Feld der Parallelreligionen wächst ungebremst weiter. Die kalte Welt fördert die Sinnsuche. Viele fahren mit dem Einkaufswagen durch die Regale des spirituellen Supermarktes und stellen je nach Stimmung die aktuellen Ingredienzien für den neuen Tag zusammen. Mal sind es Tarotkarten, dann ein Barockengel aus hellblauem Glas, ein Buch über Schamanismus, ein Heilstein, eine astrologische Prognose, ein Rückführungsseminar, eine Jenseitssession oder ein Lichtnahrungsprozess.
Erstaunlich ist die Diskrepanz der rational geprägten Alltagsrealität und der archaischen Mythen religiöser Heilsvorstellungen. Hindus fahren im Hightech-Auto zum Tempel und beten kitschige Fratzen von bösen Dämonen an. Ein Esoteriker, der bei Contraves Teile für ein Raumfahrzeug konstruiert, lernt am Abend im Engelseminar seinen persönlichen pausbäckigen Schutzengel kennen und verehren. Ein Computerspezialist wohnt am Samstag in einer Freikirche einem Exorzismusritual bei. Die Managerin einer Hightechfirma tanzt bei der Sonnenwendfeier im Wald um ein Feuer, fühlt sich als Hexe und umarmt Bäume.
Im Alltag leben wir in einer hochmodernen Welt und programmieren unser Bewusstsein nach rein rationalen Kriterien. In der spirituellen und religiösen Welt dominieren hingegen Mythen aus der grauen Vorzeit. Da herrschen Gottesbilder, wie sie kleine Kinder entwerfen. Und wir versinken gern in eine esoterisch-spirituelle Sphäre, die mehr an eine paradiesische Märchenwelt erinnert, als an ein differenziertes mystisches Konzept.
Können wir ungestört in derart gegensätzlichen Welten leben und nach Belieben hin und her switchen? Kann man eine Synthese vollziehen, ohne eine geistige Spaltung zu provozieren? Oder hat es etwa damit zu tun, dass sensible Spirituelle oder Fromme nach einem euphorischen Gotteserlebnis oder einem ekstatischen Ritual gelegentlich psychotische Reaktionen erleben?